Neil Armstrong, Astronaut der NASA, betrat am 20. Juli 1969 den Mond und sprach: "That's one small step for a man, one giant leap for mankind". Mit einem Satz überschritt der Mensch die engen Grenzen seiner Welt. So erzählen wir es uns wenigstens.

Rund 30 Jahre später sitze ich vor dem Fernseher und schaue mir die Bilder von damals an. In der Nacht hatte ich die Wiederholung der Mondlandung auf Video aufgezeichnet. Spät nach Mitternacht war ich noch vor dem Fernseher gesessen. Der Tag hatte noch keinen befriedigenden Abschluss gefunden, und zum Ausgleich wollte ich am Erreichen des Mondes teilhaben. Doch der Anflug zog sich in die Länge. Bald konnte ich die Aufregung der Herren im Studio nicht mehr teilen und verzog mich ins Bett.

Nun schaue ich mir also die Videoaufzeichnung an: Grau gekleidete Herren kommentieren das Geschehen mit damals aktuellen Retrofrisuren und Minen, deren Ausdruck zwischen technischer Sachlichkeit und bewundernder Faszination hin und her spielt. Minütlich wird die Spannung aufrechterhalten, indem irgendeiner der Herren aufgeregt wiederholt, dass sich die Mondlandefähre noch nicht von der Kapsel gelöst hat – später dann im gleichen Takt: „Die Mondlandefähre Eagle befindet sich noch im Anflug auf die Mondoberfläche.“ Die Taktgeber erleichtern mir, die Vergangenheit mit der Fernbedienung zu beschleunigen, und ich nähere mich zielgenau dem Ausstieg von Armstrong.

Flimmernde schwarzweiss Bilder: Der Fuss auf der Leiter, der Fuss am Boden, Armstrong auf dem Mond. Aber – der berühmte Satz ist nicht zu hören. Jetzt nerven mich die Kommentatoren mit ihrem technischen Detailwissen, mit dem sie den historischen Moment zerreden. Ich spule hin und her – aber von "That's one small step for a man, one giant leap for mankind" ist nichts zu hören.

Ich bin verwirrt! Da ich dem offensichtlichen Fernsehbeweis nicht trauen will, suche ich den Rat eines Experten. In der 60er Jahren hatte Bruno Stanek am Fernsehen die Schweizer auf den Mond begleitet. Später dann war ich selbst mit ihm und der NASA in den Weltraum geflogen. – Er war mein Experte. Nun wende ich mich per e-mail an ihn:

„Sehr geehrter Herr Stanek

Ich wende mich mit einer Frage an Sie, die wohl nur Sie mir beantworten können. Es geht darum, wann Armstrong seinen berühmten Satz tatsächlich ausgesprochen hat.

Zum 30-Jahr Jubiläum zeigte der Westdeutsche Rundfunk in etwas gekürzter Fassung die damaligen Live-Fernsehsendungen zu diesem historischen Ereignis. Ich habe die Sendung auf Video aufgenommen.

Nun mein Problem: Ich kann den berühmten Satz von Armstrong "That's one small step for a man, one giant leap for mankind" beim Betreten des Mondes nicht hören. Stattdessen beschreibt er schlicht die sandig-pudrige Oberfläche des Mondes. Später auf dem Rückflug spricht dann Collins (so glaub ich) den berühmten Satz aus und zitiert dabei angeblich Armstrong.

Hab ich nur schlecht hingehört?

Ich danke Ihnen für eine klärende Antwort und verbleibe mit freundlichen Grüssen

Alessandro Maranta“

Schon um halb neun abends kommt prompt die Antwort:

„Guten Tag Herr Maranta,

[Die Freundlichkeiten im ersten Absatz lass ich weg.]

Als Armstrong am Fuss der Leiter stand, hat er tatsächlich die Worte "fine powder..." "...like charcoal" gesprochen, aber ob dies nun vor oder nach dem "giant leap" war, liesse sich bestimmt herausfinden, aber mit einigem Aufwand. Damals interessierte man sich pikanterweise gar nicht so sehr dafür, was sie sagten, sondern was sie machten, auch nicht, in welcher Reihenfolge, sondern nur, ob alles gut ging! Detailfragen kamen erst viel später - und oft aus Kreisen, die zunächst noch gar nicht so überwältigt waren! Da wird manchmal guter Rat teuer.

[und so weiter...]

MfG

Bruno Stanek“[1]

Damals geschah offenbar etwas völlig anderes: Nicht der Mensch sprengte die Grenzen seiner Welt, sondern die Technik war über deren Rand hinausgewuchert und hatte Armstrong auf dem Mond ausgespuckt. So gesehen, hätte Armstrong in seinem dicken Anzug auch die Leiter herunter fallen können, um etwas ungelenk auf dem Boden dieser neu eroberten Realität zu landen.

Armstrong war kein heldenhafter Konquistador. Er war der Appendix einer technischen und organisatorischen Höchstleistung. Die Mondlandung ist eine organisatorische Grosstat der NASA, zweifellos – aber sie war keine Heldentat Armstrongs. Die Tatsache, dass Armstrong den Mond erreichte, ist sicherlich bewundernswert. Doch ich meine, wir sollten der Mondlandung ebenso viel Bewunderung entgegen bringen wie der erfolgreichen Zustellung eines DHL-Pakets.

Man verstehe mich nicht falsch: Armstrong mag für uns die Grenzen der Welt überschritten haben – aber nicht dank seines Freiheitsdranges. Jeglicher Freiheitsgrad war technisch und organisatorisch kontrolliert, und der Faktor Mensch war weitgehend ausgemerzt. Die nachträglich eingefügte, heroische Geste des Eroberers – ich meine Armstrongs Satz – besiegt nicht den Mond. Er soll einzig die Rangordnung zwischen Mensch und Technik wieder herstellen. Armstrongs Satz hätte in etwa klarstellen sollen: „Ich, Armstrong, Statthalter der Menschheit halte die Technik in meinem festen Griff und erobere für euch den Mond.“ Nur zu dumm, dass er seinen Einsatz verpasst hat.

Gegen den Verlust der Autonomie sollte Armstrongs Satz eine kuschelige Seelendroge bieten, die uns die menschliche Würde wieder gibt. So betrachtet ist der vergessene Ausspruch Armstrongs tatsächlich ein Symbol unserer modernen Gesellschaft: Armstrongs Satz ist das Manifest für die andauernde Selbsttäuschung einer Gesellschaft, die leugnet, dass sie von Technik geformt wird. Unser Glaube an Armstrongs Satz stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Der Satz kommentiert das Geschehen nicht nur. Er besetzt unsere Erinnerung und verdreht unsere Wahrnehmung.

Man stelle sich das mal im Alltag vor: Da gehe ich durch meine Wohnung, kippe die Schalter um, und erkläre pathetisch: „fiat lux!“, „fiat lux!“... Das wäre schlicht bescheuert. Trotzdem beschreiben wir den modernen Menschen immer noch so, als ob wir erhobenen und reflektierenden Hauptes durch die Welt schritten. Die Reflexion erhebt uns über das blosse Geschehen – sie stellt uns über die Technik. Das wird zumindest behauptet.

„Wir sind eine Wissensgesellschaft,“ sagen etwa Soziologen und bestärken uns im Glauben, dass unser Handeln von Wissen und rationalem Kalkül – gerade im instrumentellen Umgang mit Technik – bestimmt werde. Offenbar sitzen solche Akademiker an Instituten mit einem ausgezeichneten Informatikdienst. Denn solange der Knopfdruck auf der Tastatur automatisch auf der Oberfläche des Bildschirms umgesetzt wird, lässt sich leicht glauben, das alles so sein müsse. Doch die Freiheit des Denkers ist heute abhängig von funktionierenden Computern. Der Denker ist ohnmächtig, wenn die Technik mal nicht funktioniert. Aber er braucht die Technik ja nicht zu verstehen. Sie ist nicht Teil seiner Welt. Schliesslich hat er die Macht, „mal schnell dem Informatikfritzen Beine zu machen“.

Die Auseinandersetzung mit der Technik wird dank der Hierarchie zwischen Denker und Informatiker unnötig. In meinen Augen ist die Rede von der Wissensgesellschaft bloss der erbärmliche Versuch, ein Herrschaftsmodell aufrecht zu erhalten, bei dem die Denker über den Machern stehen sollen.

Würde ja Spass machen, der These von der Wissensgesellschaft mal so en passant – gewissermassen mit einem Schritt – kurzen Prozess zu machen. Leider reicht dazu die Zeit nicht.

Immerhin – ein kleines Experiment sei mir gestattet, zu dem ich Ihre Mithilfe benötige: Hand hoch, wer gerade ein Buch dabei hat. – Und nun Hand hoch, wer ein Handy dabei hat. – Sie sehen: Handies haben fast alle dabei, aber fragen Sie mal nach einem Buch. Wir klammern uns an Handys nicht an Bücher. Technik und nicht Wissen gibt uns den notwendigen Halt im Alltag.

In diesem Sinn nehme ich an: Armstrong vergas schlicht den bedeutungsschwangeren Satz, als er sich an das Gestell der Landefähre klammerte, die ihn soweit gebracht hatte. Armstrong war kopflos und eins mit der Technik. Wer mag ihm solches übel nehmen?

Im Grunde sollten wir Armstrong für seine Kopflosigkeit dankbar sein. Denn diese offenbart die wahre menschliche Grösse im Umgang mit der Technik. Technik macht uns kopf- und sprachlos. Sie ist unmittelbar – sofern sie funktioniert. Keine mühselige Verständigung ist erforderlich, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Knopfdruck genügt. Armstrong ist der Prototyp des modernen Menschen, der sich mittels Technik sprachlos Spass und Abenteuer verschafft. Armstrong war uns voraus: Beim Betreten des Mondes hat er sprachlos das Tor zum high-tech Abenteuer aufgestossen. Mit dem denkenden und sprechenden homo sapiens hat er dabei kurzen Prozess gemacht. Deshalb ist Armstrong mein Held.

 

[1] Zitiert mit freundlicher Erlaubnis von Bruno Stanek.

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