Seien sie gewarnt: Als Theologe habe ich das Unwahrscheinliche zu denken und über jenen Gott zu sprechen, der – wie Paulus an die Korinther schreibt – die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht hat“. Es scheint unvermeidlich, dass ich mich vor so vielen Freundinnen und Freunden der Weisheit zum Narren mache…

Beginnen wir mit einer kurzen sprachphänomenologischen Betrachtung: Was meinen wir, wenn wir davon sprechen, mit etwas oder jemandem „kurzen Prozess“ zu machen? Der Hinweis, dass der Ausdruck irgendwo in der Nähe der Wendung „nöd lang s’Chalb mache“ liegt, führt nicht wirklich weiter, unter anderem darum, weil ich nur eine vage Vorstellung davon habe, was es denn hiesse, „lang das Kalb zu machen“. Vielleicht hilft hier eine kleine autobiographische Vignette weiter, die mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt. „Ich mache kurze Prozänt mit Dir“, sprach mein Klassenkamerad Michele, die Stimme erregt, die Faust erhoben. Trotz oder gerade wegen der semantischen Unschärfe verfehlten die Worte ihre Wirkung nicht. Intuitiv nahm ich sie als mittelschwere Drohung wahr, im Umkreis der mir ebenfalls bekannten Wendung „ich säg’s minere Mueter“. Die Worte blieben in Erinnerung, anders als meine Provokation, die Micheles Drohung ausgelöst hatte; sie ist – zu meinem Glück, wenn auch gänzlich ungewollt – im Nebel der frühkindlichen Amnesie untergegangen.

Nun gut, was lernen wir daraus über die Wendung „kurzen Prozess machen“? Es sind vor allem zwei Punkte, die hier Erwähnung verdienen. Erstens: Wer kurzen Prozess macht, will seinen Willen durchsetzen, und ist nicht gewillt, lang’s Chalb zu machen, wenn es Mittel und Wege geht, sein Ziel zu erreichen. Und zweitens: Wer „kurzen Prozess“ mit jemandem machen will, will überhaupt keinen Prozess führen, sondern sein Ergebnis auf direkterem Weg – ohne Umweg über Dialog, Verfahren oder Instanzen – erreichen, koste es, was es wolle.

Nach diesem begrifflichen Vorgeplänkel kann ich mich nun meiner Frage zuwenden, die da lautet: Macht Gott mit dem Menschen kurzen Prozess? Um diese Frage zu traktieren, gehe ich – gut evangelisch – von einem biblischen Text aus. Ich werde dabei nicht vom Endgericht sprechen, sondern von einer Geschichte, an deren Ende ein Gericht steht, und zwar auf dem Tisch.

Der Text, der hinter meiner kryptischen Titelformulierung kurz protz ess steht, wird gemeinhin als das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ bezeichnet. Die Geschichte ist, kurz gesagt, die folgende: Ein Mann hat zwei Söhne. Eines Tages bittet der Jüngere den Vater, ihm seinen Vermögensanteil auszuzahlen. Der Vater teilt den Besitz unter den Söhnen auf, und kurz darauf macht sich der Jüngere auch schon aus dem Staub. Er lässt in der Folge ziemlich „die Sau raus“, geht so fahrlässig mit seinen Ressourcen um, dass er bald „ausgesourct“ hat, sprich: pleite ist. So findet sich er sich als Schweinehirt wieder und „er begehrte, seinen Magen mit den Schoten zu füllen, die die Schweine frassen.“ – wie es in der Bibel heisst. Da fällt ihm ein, dass er eigentlich auch wieder zu seinem Vater zurückkehren könnte, wo selbst die Knechte Brot im Überfluss zu futtern haben. Und dann heisst es in der Bibel: „Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und hatte Mitleid. Und er lief, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn aber sagte zu ihm: ‚Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen!’ Aber der Vater sagte zu seinen Sklaven: ‚Beeilt euch, bringt das beste Kleid heraus und zieht (es) ihm an, und gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe an die Füsse. Und holt ein Mastkalb. Schlachtet (es), und lasst uns essen und fröhlich sein.“ (Luk 15)

Dies nun findet der ältere Sohn eine Schweinerei, und er hat Recht, denn wie immer man das Verhalten des Vaters charakterisieren will, gerecht ist es jedenfalls nicht.

Hören wir stellvertretend, was einer der es wissen muss, über die Gerechtigkeit sagt. Gemeint ist der gute alte Aristoteles, von Philosophen und Theologen oft gepriesen für seinen gesunden Menschenverstand. In der Rhetorik schreibt er: „Die Gerechtigkeit ist eine Tugend, durch die jeder das Seine erhält und wie das Gesetz es angibt, Ungerechtigkeit hingegen ist das, wodurch einer fremdes Gut erhält und nicht nach dem Gesetz.“

Legt man diesen Massstab an, so sieht’s für den Vater schlecht aus, denn nach dem Massstabe der Tugend betrachtet, ist es in hohem Masse begründungsbedürftig, warum für den Jüngeren, der seinen Besitz fahrlässig verspielte, ein Fest gefeiert wird, während solches dem Älteren, der seit Jahr und Tag das Gesetz des Vaters treu erfüllt, noch nie widerfahren ist. So bieder uns der Erstgeborene auch vorkommen mag, wir müssen doch zugeben, dass seine Empörung verständlich ist. Versuchen wir nun, das moralisch Anstössige des väterlichen Gebarens etwas genauer zu fassen.

Der Vater hätte, verkürzt gesagt, zwei Möglichkeiten, gerecht zu sein: Entweder gibt er beiden Söhnen gleich viel. Das Prinzip kann sich jeder und jede, die Kinder hat, einfach vor Augen führen. Das Ergebnis sind Kinderzimmer, in dem jede Barbie-Puppe und jedes Feuerwehrauto mindest doppelt vorkommt. Es ist gerecht, wenn Kevin und Lotti beide das Gleiche zum Geburtstag erhalten. Wer solcherart am Gleichen interessiert ist, handelt sich leicht den Vorwurf der Differenzblindheit ein, denn vielleicht erfreut die obligate Klassik-CD zu Weihnachten nicht beide Töchter gleichermassen. Hier kommt nun die andere Möglichkeit, gerecht zu sein, ins Spiel: Sie besteht darin, „jedem das Seine“ zu geben. Eltern, die nach dieser Devise verfahren, werden sich zwar auch an der Idee der Gleichheit orientieren, aber doch immerhin die relevanten Differenzen in Betracht ziehen: Für Lotti die Barbiepuppe, für Kevin das Feuerwehrauto.

Falls Sie nun empört sind, dann kann ich Sie insofern beruhigen, als ich hier nur zeigen will, dass es durchaus strittig sein kann, was es heisst, „jedem und jeder das Seine“ zuzuteilen. Die Frage ist eben, in welcher Hinsicht Kevin und Lotti gleich oder unterschiedlich sind. Denn „jedem das Seine“ zu geben, könnte auch heissen, auf die Person zu schauen, die zu beschenken ist: auf ihre Bedürfnisse etwa. Denn auch das verbinden wir mit „Gerechtigkeit“: Dass der Arme mehr bekommt als der Reiche, weil er es schliesslich nötiger hat. Und hier können nun auch im weiteren Sinne moralische Gesichtspunkte ins Spiel kommen: Wer sich schweinisch benimmt, der soll seine gerechte Strafe bekommen. Und wer den inneren und äusseren Schweinehund zu zähmen weiss, dessen Mühe wird nicht umsonst sein: Es wird sich dereinst auszahlen. Er hat sich’s verdient. Hier sind wir nun bei jener Ökonomie von gut und böse angelangt, ohne die auch unsere säkulare Gesellschaft nur schwer auskommt. Sie lebt davon, dass Heil, Wohl oder Glück knappe Güter sind. Es hat nicht genug davon; man muss sich anstrengen, um etwas davon abzubekommen. Trittbrettfahren und Schmarotzen darf sich nicht auszahlen.

Das war auch für die Hörer klar, denen Jesus seine Parabel vortrug: Gerecht ist’s, wenn Gott die Guten belohnt und die Bösen bestraft; und gut und böse lassen sich recht trennscharf auf die zwei Söhne verteilen. Das kannte man von vielen Weisheitslehrern. Ihre Geschichte von guten und bösen Kindern halfen mit, die bestehende Ordnung zu stabilisieren. Seht hin: Es lohnt sich doch, gut zu sein. Das war die Moral von der Geschicht’. Triebverzicht lohnt sich, zumindest in the long run. Gerade weil das Leben zu allen Zeiten genügend Gegenbeispiele liefert, muss und musste dies immer wieder eingebläut werden.

Der Nazarener setzt hier einen anderen Akzent, aber es liegt nun alles daran, genau hinzuschauen, um die Pointe der Geschichte nicht zu verspielen, um zu verstehen, warum die Parabel subversiver ist, als es nach zwei Jahrtausendem christlichem Abendland scheinen könnte. Nur allzu leicht entsteht der Eindruck, es handle sich um eine jener harmlos-penetranten „Gott ist dem armen Sünder gnädig“-Geschichten, die dem vertrauten Muster folgen: Wer sich am meisten erniedrigt, wird auch am meisten erhöht. Wer möglichst blumig, offen und zerknirscht bereut, der wird dafür mit Gnade belohnt. Das wäre sie, diese Heilsökonomie des Tauschs, die im Ablasshandel gipfelte, an der sich Luthers Zorn entzündete. Die Kirche als Verwalterin des Heils, die kräftig Kapital schlägt aus den Ängsten und dem schlechten Gewissen der Menschen: „Wenn der Batzen in dem Säckl klingt, die Seele in den Himmel springt.“

Aus protestantischer Sicht hängt nun alles dran, dass hier nun Gnade vor Recht ergeht, und das in einem sachlichen und in einem zeitlichen Sinne. Kaum eine Geschichte illustriert dies schöner als die Parabel von den zwei Söhnen: „Als er aber noch weit weg war, sah ihn sein Vater und hatte Mitleid. Und er lief, fiel ihm um den Hals, und küsste ihn.“ „Er hatte Mitleid“ – „es jammerte ihn“, übersetzte Luther. Es ist dasselbe Wort wie beim „barmherzigen“ Samariter. Da stecken die „Eingeweide“ drin: Was der Vater sieht, geht ihm an die Nieren, ans Herz, ans Lebendige. Er kommt dem Büssersprüchlein, das der Sohn vorbereitet hat, zuvor. Das Mitleid setzt den Vater ausserhalb von Recht und Ordnung. Er wird aus Liebe zum outlaw. Das Mitleid ist eine spontane Regung; es ergreift ihn, als er seinen Sohn erblickt. Dieser will sich erniedrigen und darum bitten, doch wenigstens als Knecht arbeiten zu können; er will mit seiner Selbstanklage den Richter milde stimmen – da hat ihn der Vater bereits umarmt. Darin das ganz Evangelium verdichtet: Gott kommt auf den Menschen zu, wie dieser Vater auf seinen Sohn. Nicht der Mensch muss Gott suchen und finden, nein, umgekehrt: Wenn, dann findet Gott den Menschen.

Kommen wir nun zurück auf die Ausgangsfrage meines Sermons: Macht Gott kurzen Prozess mit dem Menschen? Weil meine Rede „ja, ja“ oder „nein, nein“ sein soll, entscheide ich mich für „nein, nein“. Versteht man unter einem Prozess ein peinlich genau geregeltes Verfahren, an dessen Ende ein Urteil steht, das den Angeklagten schuldig oder frei spricht, dann macht Gott dem Menschen keinen Prozess, auch keinen kurzen. Sein Mitleid kommt ihm dazwischen. Ein Formfehler ist das, und unvernünftig, so wie Liebe halt ist.

Und die Liebe führt keine Prozesse, und sie macht auch nicht kurzen Prozess, denn wo jemand kurzen Prozess macht, da bleibt nachher nichts übrig. Tabula rasa. Doch wo Gott ist, herrscht keine Knappheit, sondern Überfluss. Da wird nicht getauscht, sondern gegegen, gratis und franko. Da siegt am Ende das Leben, und der Tisch ist nicht leergefegt, sondern es steht ein Gericht darauf. Und mit dem darf ruhig kurzen Prozess gemacht werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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