Eine enge Verbindung besteht, wie wir in den folgenden zehn Minuten sehen werden, zwischen Tod und Essen. Das ist selbstredend beim Leichenmahl, gilt aber auch für dieses philosophische Abendmahl, das hoffentlich kein letztes Abendmahl ist. Als Moralphilosoph beschäftigen mich in diesem Zusammenhang praktische Probleme wie das folgende.

Nehmen wir an, vor uns stehen zwei Gläser: Glas A ist mit köstlichem Burgunder gefüllt, während Glas B abscheulichen Essig enthält. Allerdings ist der Wein vergiftet, und zwar so, dass sein Genuss in kürzester Zeit zum Tod führt. Es ist ein völlig schmerzloser, ruhiger Hinschied, Euthanasie im urprünglichen Sinn des Wortes: ein guter Tod. Der Essig verursacht Übelkeit und Erbrechen, nach ein paar Stunden ist jedoch alles wieder in Ordnung. Eines der Gläser sind wir gezwungen zu trinken - nehmen wir weiter an, schlaumeierische Abstinenzler kommen direkt in die Hölle und leiden dort ewige Qualen - welches sollen wir wählen? Wein oder nicht-Wein, das ist die Frage.

Meine wenig interessante Antwort ist - und ich zweifle nicht ernsthaft daran, dass alle sie geben würden - dass es richtig wäre, in den sauren Apfel zu beissen und den Essig zu trinken. (Allfälligen Ausnahmen sage ich "à votre santé" und verabschiede mich hiermit von ihnen.) Interessanter ist die weitere Frage, weshalb wir den übelkeiterregenden sauren Essig dem todbringenden süssen Wein vorziehen sollen. Betrachten wir nämlich, was auf dem Spiel steht: Glas B enthält offensichtlich nur Schlechtes: Nicht genug, dass es schon eine Qual ist, den Essig zu trinken, werden wir auch noch mit mehrstündiger Übelkeit bestraft. Glas A hingegen bringt zumindest etwas unbestritten Gutes, den Genuss eines edlen Tropfens. Und dann ist da noch der Tod. Damit dürfte klar sein, worauf ich hinauswill: Es geht mir darum, dass, wenn es richtig ist, eher den Essig als den Wein zu trinken, dieser Tod ein Übel sein muss. Präziser und im philosophischen Jargon: Nur wenn der Tod von S für S ein Übel ist, hat S einen prudentiellen Grund, eher B als A zu trinken.

Warum diese Präzisierung? Zum einen könnte es ein unpersönliches Übel sein, wenn ein Wesen wie S stirbt. Wenn Leben per se einen Wert darstellt, dann ist der Tod von S schlecht; aber damit ist noch nicht gesagt, dass er für S schlecht ist. S hätte dann zwar einen Grund, den Essig vorzuziehen, aber es wäre nicht ein prudentieller Grund. Zum anderen könnte S einen moralischen Grund haben, auf den Wein zu verzichten: wenn S zum Beispiel jemandem versprochen hat, keinen Wein zu trinken oder zumindest keinen vergifteten Wein zu trinken, oder wenn andere in relevanter Weise von S abhängig sind. Falls Kant mit den Pflichten gegenüber sich selbst recht hat, hat zudem selbst Robinson auf der Insel einen moralischen Grund, auf den lethalen Wein zu verzichten. Hier geht es mir aber allein darum, inwiefern es ein Gebot der Klugheit ist, dem Tod aus dem Weg zu gehen. Auf zwei Fragen gebracht: 1) Ist der Tod von S für S ein Übel? 2) Wenn ja, worin besteht es?

Die erste Frage scheint nicht besonders interessant zu sein, weil ohnehin alle sie mit Ja beantworten würden: So geht zum Beispiel jede Verfechterin der Todesstrafe davon aus, dass der Tod von S für S ein Übel ist. Zumindest jede, die meint, durch die Tötung des Übeltäters werde der Gerechtigkeit Genüge getan, muss überzeugt, dass diesem damit etwas Schlimmes, womöglich das Schlimmste angetan wird. In leicht besserer, d.h. philosophischer Gesellschaft sieht die Sache nicht viel spannender aus: Muss die These, der Tod sei für den Betroffenen ein Übel, nicht eine ganz langweilige sein, wenn sich in dieser Frage sogar Aristoteles und Hobbes einig sind? In der Nikomachischen Ethik ist vom Tod als dem Schrecklichsten aller Dinge die Rede, und Thomas Hobbes schreibt in den Philosophical Rudiments: "[E]very man is desirous of what is good for him, and shuns what is evil, but chiefly the chiefest of natural evil, which is death; [...]"

So einfach ist die Sache allerdings nicht. Wie zumindest jeder weiss, der die Sinnsprüche und Worte gelesen hat, die der Einladung zu diesem philosophischen abendmahl beigegeben waren, hat Epikur das Gegenteil behauptet, dass nämlich der Tod von S für S kein Übel sei. In seinem Brief an Menoikeus lesen wir:

"Gewöhne dich ferner daran zu glauben, der Tod sei nichts, was uns betrifft. Denn alles Gute und Schlimme ist nur in der Empfindung gegeben; der Tod aber ist die Vernichtung der Empfindung."

und

"Das Schauererregendste aller Übel, der Tod, betrifft uns überhaupt nicht; wenn "wir" sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind "wir" nicht. Er betrifft also weder die Lebenden noch die Gestorbenen, da er ja für die einen nicht da ist, die anderen aber nicht mehr für ihn da sind."

Das sind gleich zwei Argumente, weshalb der Tod von S für S kein Übel ist: Das erste lautet, dass der Tod für uns nicht schlecht sein kann, weil alles Schlechte nur in der Empfindung liegt. Der Tod ist aber gerade das Ende aller Empfindungen, und deshalb kann weder er noch was danach kommt, für uns schlecht sein. Das zweite lautet, dass der Tod für S nicht schlecht sein kann, weil mit dem Tod von S gar kein S mehr da ist, für das der Tod schlecht sein kann. Im einen Fall gibt es nichts Schlechtes mehr für S, weil S keine Empfindungen mehr hat; im anderen Fall gibt es nichts Schlechtes mehr für S, weil es gar kein S mehr gibt.

Epikur lässt sich zumindest so interpretieren, dass er konsistenterweise den Burgunder hätte trinken müssen: Auf dieser Seite steht nämlich allein die prämortale genussreiche Empfindung; der Tod selbst kann nicht in die Rechnung eingehen, entweder weil Epikur inter- und postmortal nichts mehr empfinden kann oder weil es dann gar keinen Epikur mehr gibt. Diese Wein & Essig-Geschichte, so meine ich zumindest, lässt den antiken Philosophen ziemlich alt aussehen. Sie führt zu absurden Resultaten.

Mit der Feststellung, dass Epikurs These zu absurden Resultaten führt, sind natürlich noch nicht seine Argumente erledigt. Die Herausforderung bleibt, wie der Tod von S für S schlecht sein kann, wenn erstens mit dem Tod von S alle Empfindungen von S aufhören und zweitens mit dem Tod von S niemand mehr da ist, für den etwas schlecht sein kann. Dazu gibt es seit bald 30 Jahren eine Standardlösung, die zugleich eine Antwort darstellt auf meine zweite Frage: Worin besteht für S das Übel des Todes von S? Ich möchte die Frist, die mir bis noch bleibt, dazu nutzen, zu zeigen, weshalb mit der Standardantwort nicht das "letzte Wort" gesprochen ist.

Die Standardantwort lautet: Das Übel des Todes kann nicht in negativen Erfahrungen bestehen, weder der Tod noch das Totsein ist mit irgendwelchen Qualen verbunden. Soweit hat Epikur völlig recht. Der Tod ist vielmehr deshalb schlecht für uns, weil er uns positiver Erfahrungen beraubt. Wenn ich mit 20 statt mit 80 sterbe, werde ich um einen guten Teil der praemia vitae gebracht. Die Standardantwort kann sogar bestimmen, wie schlecht mein vorzeitiger Hinschied ist: Wir schauen, wie gut es mir in der nächsten möglichen Welt, in der ich nicht mit 20 sterbe, geht; die Differenz zur aktualen Welt, in der ich mit 20 sterbe, ergibt das Ausmass des Übels. Greife ich zum Rotwein statt zum Essig, bringe ich mich also nicht nur um - Punkt-, sondern bringe mich auch um all die Freuden, die da meiner harren.

Diese Standardantwort reicht jedoch aus mehr Gründen, als ich hier auch nur aufzählen kann, nicht aus. Nennen will ich lediglich zwei: Erstens macht sie das Übel des Todes ausschliesslich davon abhängig, wie gut jemandes Leben alternativ verlaufen wäre. Aber in der Rede vom Tod als der wahrsten aller Demokratien - ich glaube, das ist von Kurt Tucholsky - scheint mir nicht nur richtig zu sein, dass der Tod irgendwann alle einholt, sondern auch dass im Tod zumindest ein negatives Element steckt, das für alle gleich schlecht ist, unabhängig davon, was für gute Dinge ihr weiteres Leben enthalten würde. Zweitens - und das ist für mich viel wichtiger - trifft die Standardantwort nicht, was beim Tod wirklich auf dem Spiel steht: Sie bewegt sich auf der Ebene von Gütern im Leben, wo doch eigentlich das Leben selbst betroffen ist. So banal es klingt: Der Tod geht an die Existenz, und eben nicht bloss an die guten Dinge im Leben. Das zentrale Übel des Todes besteht, so scheint mir jedenfalls, nicht in den entgangenen positiven Erfahrungen, sondern im völligen Ende der Möglichkeit von Erfahrungen überhaupt.

Das klingt nun schon beinahe transzendental abgehoben, und es ist wohl an der Zeit zur eingangs erhobenen Behauptung zurückzukehren, zwischen Tod und Essen bestehe eine enge Verbindung. Was es mit dem Leben und dem Tod auf sich hat, lässt sich nämlich zwanglos an einem Abendmahl wie diesem deutlich machen. Ist denn der schönste Euphemismus fürs Sterben nicht der, dass "jemand den Löffel abgibt"? Der Apéro ist die Kindheit, und da sind noch die meisten dabei, aber bis zum Dessert schaffen es nicht alle. Einige scheiden vor dem zweiten Hauptgang aus, andere haben unmittelbar nach dem Salat einen Abgang gemacht. Wenn uns jetzt der Tod ereilt - was sagt die Standardantwort dazu? Sie sagt, dass das Übel dieses Todes im Coq au Beaujolais und im Zwetschgensorbet mit Vieille Prune besteht, die uns entgehen. Mit Verlaub, das ist mir zuwenig: Meine Vorstellung vom Tod ist einiges weniger appetitlich, und ich entschuldige mich für den schlechten Geschmack; aber der Tod nimmt nun mal keine Rücksichten: Wenn ich sterbe, so ist das, wie wenn mir mitten im Essen der Magen platzt. Das gilt in zweifacher Hinsicht. Im Hinblick auf die Zukunft ist die Möglichkeit weiterer Genüsse beendet, und zwar endgültig. Im Hinblick auf die Vergangenheit fallen die vergangenen Genüsse auseinander, es sind nicht mehr meine. Mit dem Tod wird das Kontinuum, das mich ausmacht und das die früheren Gänge zu meinen Genüssen macht, vernichtet.

Wir wissen jetzt also,
1) dass der Tod für uns ein Übel ist, und das nicht allein aufgrund der Güter, die uns durch den vorzeitigen Tod entgehen. Was uns in erster Linie Grund gibt, den Tod zu hassen, ist vielmehr, dass erstens mit dem Tod alle künftigen Möglichkeiten endgültig abgeschnitten werden und dass zweitens der Tod das Kontinuum vergangener Erfahrungen vernichtet. Mit anderen Worten: Der Tod beraubt uns nicht nur des Desserts, sondern nimmt uns auch den Salat und die Suppe weg.
2) dass wir einen prudentiellen Grund haben, den Tod zu vermeiden, weil er für uns ein Übel ist.
3) und dass wir deshalb einen Grund haben, eher den übelkeiterregenden sauren Essig als den todbringenden süssen Wein zu trinken.

Prost!

 

 

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